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“Da ist noch viel Aufklärung erforderlich”

Ein Artikel von Tanja Fuchs
erschienen in der Hämovision, Ausgabe März 2022

Wie war das in den 1980ern, wie ist es heute und was macht der VOB?

Rund vierzig Jahre nach einem der größten Skandale in Deutschland kämpfen Überlebende immer noch um angemessene Entschädigung und vor allem darum, gehört zu werden und mitsprechen zu dürfen. Auch Menschen mit Blutgerinnungsstörungen gehören dazu.

Viele Jahre lang hatten die Opfer des Blutskandals geschwiegen. So lange, dass das, was ihnen zwischen 1983 und bis etwa 1990 widerfahren war, beinahe in Vergessenheit geriet und – schlimmer noch – dass die Unterstützung, die ihnen zustand, auszulaufen drohte. Als im Jahr 2016 absehbar wurde, dass der Topf, aus dem die Mittel ihrer Entschädigung gezahlt wurden, innerhalb der nächsten zwei Jahre leer sein würde, wurden einige von ihnen laut. Sie starteten die Blutskandal-Kampagne, die mit einem Demonstrationszug zum Brandenburger Tor auf die dringende Novellierung des HIVHG aufmerksam machte. Sie organisierten das Politcafé, an dem neben der Deutschen Aids-Hilfe (DAH) Politiker und Politikerinnen des Gesundheitsausschusses von CDU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN teilnahmen. Gemeinsam erreichten sie die lebenslange Entschädigungsregelung einschließlich der regelmäßigen Anpassung an die Rente ab 2019 für die mit HIV infizierten Opfer. Im Rahmen dieser Aktivitäten wurde auch der Verband der Opfer des Blutskandals – VOB e.V. – gegründet, in dem sich seit dem 1.4.2017 betroffene Aktivisten, deren Familien und Freunde engagieren. Menschen wie Michael Diederich und Jürgen Möller-Nehring, die ihre Geschichte mit der Hämovision geteilt haben.

HIVHG – HIV-Hilfegesetz

Das HIVHG ist am 31.7.1995 in Kraft getreten. Zweck des Gesetzes ist es, aus humanitären und sozialen Gründen und unabhängig von bisher erbrachten Entschädigungs- und sozialen Leistungen an Personen, die durch Blutprodukte unmittelbar oder mittelbar mit dem Human Immundeficiency Virus (HIV) oder infolge davon an AIDS erkrankt sind, lebenslang und an deren unterhaltsberechtigte Angehörige zeitlich begrenzt finanzielle Hilfe zu leisten. Mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes galt auch die Stiftung als entstanden, die unter dem Namen „Humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HIV-infizierte Personen“ errichtet wurde und der Aufsicht des Bundesministeriums für Gesundheit unterliegt. Die jüngste Änderung des Gesetzes erfolgte mit Wirkung vom 1. Januar 2019 durch Artikel 6a des Gesetzes zur Fortschreibung der Vorschriften für Blut- und Gewebezubereitungen und zur Änderung anderer Vorschriften (BlGewVFG). (vgl. www.gesetze-im-internet.de/hivhg/HIVHG.pdf)

 

HIV-Hilfegesetz seit 1995 aktiv

Hintergrund

Seit ca. 1973 ist es möglich, Menschen mit Gerinnungsstörungen mit Faktor-VIII oder -IX-Präparaten zu behandeln. Bis in die 90er-Jahre wurden diese ausschließlich aus menschlichem Blut gewonnen. Dabei traten sehr häufig Hepatitis-Infektionen auf. Um die Kontamination von Blutprodukten mit Hepatitis-Viren aufzeigen und damit die Gefahr einer Infektion verringern zu können, musste ab 1976 für Blutprodukte, die in Deutschland in Umlauf gebracht werden sollten, ein Alanin-Aminotransferase-Test (ALT-Test) durchgeführt werden.

Nun wurden aber etwa 90 Prozent des für die Gewinnung von Gerinnungsfaktoren verwendeten Blutplasmas aus den USA importiert, wo andere Sicherheitsbestimmungen galten. Bis 1985 wurden auch Spenderinnen und Spender aus Risikogruppen, wie Drogenabhängige und Prostituierte, als Blutspender zugelassen und der ALT-Test wurde in den USA erst ab 1986 Pflicht. Spätestens 1982 hätte es durch die möglich gewordene Behandlung mit virusinaktivierten Präparaten zu nahezu keiner Infektion mehr kommen müssen. Das Bundesgesundheitsamt (BGA) hatte über mehrere Jahre versäumt, das Ruhen der Zulassung für nichtinaktivierte Präparate anzuordnen, dadurch waren beide nebeneinander auf dem Markt und wurden parallel genutzt. Das Versäumnis des BGA war Ursache für einen der größten Skandale der Medizingeschichte in Deutschland und unendlich viel menschliches Leid.

2.000 Betroffene durch kontaminierte Plasmaspenden

Jeder, der Blutprodukte benötigte, war potentiell gefährdet, die meisten Betroffenen (ca. 60 Prozent) waren Menschen, die an Blutgerinnungs-Störungen litten und regelmäßig aus Serum-Pools hergestellte Gerinnungspräparate erhielten. So wurden weiterhin wissentlich nicht hitzebehandelte Blutprodukte verwendet. Die Krankenkassen drängten zudem aus Kostengründen auf das Aufbrauchen der alten Bestände. Die Infektion betraf nicht nur einzelne Menschen, die sich über Blut oder Medikamente angesteckt hatten, sondern auch deren Partner oder Familien. Rund 2.000 Menschen wurden damals über kontaminierte Präparate direkt oder durch die Ansteckung bei ihrem betroffenen Partner mit dem HI-Virus infiziert. 1.300 von ihnen sind inzwischen an den Folgen von AIDS oder Leberschäden (auch infolge des HC-Virus) verstorben.

Um die Betroffenen zu vertreten, wurde am 1. April 2017 der Verband der Opfer des Blutskandals, VOB e.V., gegründet. Seither schließen sich hier Menschen zusammen, die sich während der 80er/90er Jahre unverschuldet durch Blut, Serum oder Blutprodukte mit HI- und / oder HC-Viren infiziert haben. Dazu gehören auch Leistungsempfänger der Stiftung Humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte HIV-infizierte Personen nach dem HIVHG sowie deren Familienangehörige. Der Anteil der Hämophilen unter den Leistungsempfängern liegt bei ungefähr 65 Prozent. (Quelle: DHG, 2017)

Die Arbeit des bundesweit tätigen Vereins ist in drei Aufgabenbereiche unterteilt:

  • Hilfe zur Selbsthilfe
  • Kooperation mit Politikern und Politikerinnen
  • Kreative Kampagnen und Kontakte
   

Die Geschichte von Michael Diederich

Als Michael Diederich erfährt, dass er sich mit dem HI-Virus infiziert hat, ist er 12 Jahre alt. Es ist 1987. Tatsächlich trägt er das Virus bereits seit vier Jahren in sich. Seit zwei Jahren wissen es seine Eltern. „Als Anfang 1983 die ersten Fälle in den USA bekannt geworden waren, hatte meine Mutter sofort in der Arztpraxis nachgefragt, ob sie sich Sorgen machen müsse“, erzählt er. Der Arzt beruhigt Frau Diederich. Auch als es ein Jahr später in Frankreich und Deutschland Fälle gibt, beteuert er, dass alles in Ordnung sei, die Kinder würden ohnehin die hitzebehandelten Präparate erhalten, sie brauche sich keine Sorgen zu machen. Tatsächlich ist ihr Sohn Michael längst infiziert. 1983 schon – im Alter von acht Jahren. 1985 wächst der Druck, vor allem seitens der Medien, und schließlich gibt es großangelegte HIV-Testungen für Menschen, die Blutplasmapräparate erhalten haben. „Die Uniklinik Ulm hatte alle Bluter zum Test eingeladen und eine Woche nachdem wir dort waren, hatte man meiner Mutter telefonisch das Ergebnis mitgeteilt: HIV-positiv. Weil man meine Blutproben eingefroren hatte, wusste man dann auch, dass die Infektion bereits zwei Jahre zurück lag. Niemand hatte den Mut gehabt, Eltern und Patienten ehrlich aufzuklären.“

Wie erklärt man einem 10-Jährigen, dass er sich mit eben jenem Medikament, das er zum Überleben braucht, mit einer Krankheit infiziert hat, für die es keine Heilung gibt und die potenziell tödlich verläuft?

Erstmal gar nicht.

Als Michael 12 Jahre alt ist, erzählt er seiner Mutter davon, dass er sich in eine Mitschülerin verliebt habe. Kurz darauf konfrontieren seine Eltern ihn mit der Wahrheit. „Die Sorge, ich könnte jemanden anstecken, war einfach zu groß. Als Hämophiler war ich ohnehin sehr vorsichtig und passte höllisch auf, dass es nicht zu Blutungen kam, jetzt wusste ich, dass ich vor allem mit niemandem in Kontakt kommen durfte, wenn eine Blutung auftrat.“

 Zwei Jahre später beginnen die gesundheitlichen Probleme. „Ich war 14 und langsam begriff ich, was es bedeutet, HIV-positiv zu sein.“

Sowohl die Leukozyten – essentiell für das Abwehrsystem des Körpers – als auch die Thrombozyten, als wichtiger Bestandteil für die Blutgerinnung, erreichen untere Grenzwerte. Michaels Immunsystem bricht zusammen und es dauert etwa 9 Monate, bis es sich halbwegs normalisiert hat. „1989 gab es noch keine HIV-Medikamente, nur Immunglobuline, die vor allem bei Kindern dazu beitragen konnten, das Immunsystem einigermaßen zu stabilisieren.“ Doch die Stabilität ist nicht von Dauer. Ständige Infekte werden zum Begleiter: Erkältungen, Entzündungen der Nebenhöhlen, Herpes. „Vor allem die Bläschen im Mund waren schlimm, ich konnte tagelang nicht richtig essen. Später hatte ich immer wieder Warzen im Gesicht und an Händen“, erinnert sich Michael. „Das ist, wenn man 16, 17 Jahre alt ist, nicht einfach. Das kratzt am Selbstwertgefühl.“

AIDS

Mit 18 fällt Michael ins Stadium AIDS. „Nach meiner zweiten Pneumocystis-Pneumonie innerhalb von 6 Monaten haben die Ärzte mich aufgegeben. Sie gaben mir noch ein halbes Jahr, ich sollte meine Sachen erledigen. Ich war 19 Jahre alt! Meine Sachen erledigen bedeutete für mich, die Schule abzubrechen und noch was von der Welt zu sehen. Zeit für mich haben und Zeit mit meiner Familie und Freunden zu verbringen.“


Pneumocystis-Pneumonie (PCP)

Die PCP gehört zu den häufigsten AIDS-Erkrankungen bei HIV-Patienten. Erreger dieser interstitiellen Pneumonie, an der heutzutage fast nur antiretroviral unbehandelte Patienten erkranken, sind Pneumocysten, eine ungewöhnliche Pilzart. Die PCP ist auch heute noch eine sehr gefährliche Erkrankung, die nicht selten eine maschinelle Beatmung erfordert und dann noch immer eine hohe Letalität besitzt. Ältere Patienten haben ein besonders hohes Mortalitätsrisiko. Die früher häufigen Rezidive sind heute dank antiretroviraler Therapie und Prophylaxe selten geworden.

HIV-Schleife – Red Ribbon
Wissen

Die Rote Schleife (englisch Red Ribbon) ist weltweit ein Symbol der Solidarität mit HIV-Infizierten und AIDS-Kranken. Der Awareness Ribbon wurde 1991 von der New Yorker Künstlergruppe Visual AIDS geschaffen. (Quelle: wikipedia)


Immer noch am Leben

Mit 21 ist Michael Diederich zwar immer noch am Leben, aber „ich war ein psychisches Wrack.“

Er beschließt einen Spezialisten in einer Münchner Klinik aufzusuchen und seinen Freunden endlich von seiner Krankheit zu erzählen. „Ich war an einem Punkt angelangt, an dem ich nichts mehr zu verlieren hatte.“

Der Münchner Arzt ist der Erste, der ihn richtig über HIV aufklärt. Und die Reaktion seiner drei besten Freunde hätte nicht besser sein können: Sie haben mich umarmt und gefragt, was sie tun können. Mehr als einmal habe ihn einer seiner Freunde ins Krankenhaus begleitet, ihn sogar nach München gefahren und dafür extra Urlaub genommen. „Das hat mir unglaublich viel Kraft gegeben.“ Über den Arzt der Münchner Klinik erhält Michael die Chance an einer Studie teilzunehmen, in der die ersten HIV-Medikamente getestet werden. Die Nebenwirkungen sind heftig, aber als der Arzt ihm die Ergebnisse seiner Blutwerte zeigt und er mit eigenen Augen sieht, wie die Viruslast sich signifikant verringert, ist er motiviert. Sein Ziel: Unter die Nachweisgrenze zu kommen. Der Arzt ist skeptisch, weil die Infektion bereits so viele Jahre zurückliegt, aber nach vier Jahren hat Michael sein Ziel erreicht. „Das war wie ein zweiter Geburtstag!“

Ein Grund zum Feiern und viele, um traurig zu sein

An das Thema Kinder und Familie ist Anfang der 2000er – trotz der nicht nachweisbaren Viruslast – nicht zu denken und es ist der Grund dafür, dass seine Freundin sich schließlich von ihm trennt. „Natürlich war das hart, aber ich habe es auch verstehen können“, sagt Michael Diederich. „Ihr Kinderwunsch war groß, wir haben uns freundschaftlich getrennt und bis heute Kontakt gehalten.“ Michael Diederich versucht immer wieder Jobs anzunehmen und gerät immer wieder an sein Limit. „Das frustriert, man fühlt sich wertlos.“ Zwei Jahre habe es gedauert, bis er begriffen und akzeptiert habe, dass sein Körper ihm Grenzen setzt. „Dann habe ich mich entschieden, ehrenamtlich zu arbeiten und es war das Beste, was ich tun konnte.“ In einer Einrichtung für betreutes Wohnen erfährt Michael Diederich erstmals wieder, wie es sich anfühlt, gebraucht zu werden.

Weil seine Freunde anfangen, ihn damit aufzuziehen, dass er mit Ende 20 immer noch zu Hause wohnt, macht er sich Gedanken, wie es weitergehen soll. „Ich war tatsächlich ziemlich unselbstständig, das wollte ich ändern.“ Nach Beendigung einer nebenwirkungsreichen Interferontherapie gegen das Hepatitis-C-Virus, das Michael Diederich sich in den 1980er Jahren auf demselben Weg zugezogen hat wie HIV, plant er seinen Auszug aus dem elterlichen Zuhause.

Noch zweimal muss er die Interferon-Therapie wiederholen. Die letzte Behandlung im Jahr 2013 läuft über 48 Wochen und kostet enorm viel Kraft. Der damals 37-Jährige verliert viel Gewicht und vor allem Muskelkraft. „Aber es hat sich gelohnt. Ich bin geheilt.“

2015 beginnt Michael Diederich sich in der Ulmer Aids-Hilfe zu engagieren, wo er seine jetzige Verlobte kennenlernt. Gemeinsam machen sie sich für die Rechte der Opfer des Blutskandals stark, kämpfen für Aufklärung und gegen die Stigmatisierung und Ausgrenzung von HIV-Positiven und gründen zusammen mit weiteren Mitstreitern im Jahr 2017 den VOB e.V.

Heiraten wollen sie später, vor drei Jahren sind sie Eltern einer kleinen Tochter geworden – ein Glück, das für Michael Diederich noch immer schwer zu fassen ist.

 

Aufklärung

Noch immer gibt es zahlreiche Vorurteile und große Wissenslücken zum Thema HIV. Einer Umfrage der Deutschen Aidshilfe aus dem Jahr 2020 zufolge wissen nur rund 18 Prozent der Menschen in Deutschland, dass HIV unter Therapie nicht mehr übertragbar ist. 2017 waren es nur 10 Prozent. Immerhin gut ein Drittel (34 Prozent) der Befragten weiß heute, dass HIV-Medikamente auch die Übertragung von der Mutter auf das Kind bei der Geburt verhindern. (vgl. www.aidshilfe.de/meldung/immer-mehr-menschen-wissen-hiv-therapie-uebertragbar)

Die Geschichte von Jürgen Möller-Nehring

Jürgen Möller-Nehring kann sich noch an Zeiten erinnern, in denen es keine Faktorpräparate gab. Wenn der 1961 geborene Erlanger als Kind eine Blutung hatte, hieß es kühlen und ruhigstellen! Seine ersten Serumtransfusionen erhielt er erst im Alter von 11 Jahren im Krankenhaus. „Ich habe überhaupt sehr viel Zeit im Krankenhaus verbracht. Bis zu meinem 14. Lebensjahr waren es drei Jahre insgesamt!“

Die Fehlzeiten in der Schule sind enorm, zweimal muss Jürgen die Klasse wiederholen.

„Meine Eltern haben mich aber immer unterstützt und vor allem motiviert, am Ball zu bleiben, damit ich mein Abitur schaffe. Ich sollte einen Beruf lernen, den ich trotz meiner Erkrankung ein Leben lang würde ausüben können.“ Dankbar ist Jürgen Möller-Nehring seinen Eltern vor allem dafür, dass sie ihn nicht in Watte gepackt haben. Ich war immer aktiv, bin viel draußen unterwegs gewesen, habe mich bewegt und Neues ausprobiert.“

Neu ist 1974 die Heimselbstbehandlung, die der 13-Jährige im Hämophilie-Zentrum erlernt, um fortan zwei bis dreimal wöchentlich den Gerinnungsfaktor selbstständig substituieren zu können. „Das war ein großer Fortschritt.“

Nach dem Abitur schreibt sich der 21-Jährige für das Medizin-Studium in Erlangen ein. „Medizin wollte ich studieren, weil ich – nach allem was ich erlebt hatte – etwas dazu beitragen wollte, dass es für andere besser läuft.“ 1986 ist die erste Hürde geschafft. Jürgen besteht das Physikum und fährt für drei Monate alleine nach Indien. Eine solche Reise zu jener Zeit und noch dazu mit Hämophilie ist mutig, doch der angehende Mediziner möchte nach der langen Phase des Lernens eine Weile raus und er will unbedingt das Himalaya-Gebirge sehen.

„Als ich im Herbst ’86 zurückkehrte, tobte die ’Aids-Hysterie‘ in den Medien“, erinnert er sich. „Es ging vor allem um die Risikogruppen, also auch um uns Bluter.“ Er erinnert sich, dass er an der Uniklinik, in der er wegen seiner Hämophilie in Behandlung ist, eine Einverständniserklärung für weitere wissenschaftliche Untersuchungen an seinen Blutproben unterschrieben hatte und ruft dort an.

„Man hat mich dann erstmal vertröstet, man müsse das erst in den Unterlagen raussuchen…“ Am Tag darauf erhält er einen Anruf, in dem ihm knapp, nüchtern und sachlich mitgeteilt wird, dass er HIV-positiv sei. Nur weil er nachfragt, erfährt er außerdem, dass dies bereits seit zwei Jahren der Fall ist.

„Ich habe eine unglaubliche Leere gefühlt. Es war, als habe man mich einen Abgrund hinuntergeschubst, ich befand mich noch im freien Flug, wusste aber, ich würde bald aufschlagen. Mein Leben, so wie es bisher war, schien zu Ende. Die Prognosen 1986 waren düster: Wenn du Glück hast, bleiben dir fünf, maximal zehn Jahre.“ Jürgen Möller-Nehring ist 25 Jahre alt, hat Pläne und Ziele, er ist mitten im Studium, hat eine Freundin, mit der er über die Zukunft spricht.

„Was mache ich jetzt? Wo geht es jetzt hin? habe ich mich gefragt.“ Zum Gefühl der Leere gesellt sich Wut. Jürgen wechselt die Praxis, wird zunächst in München, später in Nürnberg weiterbehandelt.

Unter seinen Studienfreunden outet sich der 25-Jährige schnell. Er möchte sein Studium fortführen, hat aber häufig Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Er ist sich unsicher, wie er der Uni gegenüber mit dem Thema umgehen soll und ob man ihn möglicherweise aus der Hochschule werfen würde.

Meine Maxime war:
Lebe so gesund, wie es geht!

Bis zum AIP (Arzt im Praktikum) weisen seine Laborwerte keine Veränderungen auf. „Ich hatte offenbar Glück, was den Verlauf der Infektion anging, war ärztlich gut versorgt, studierte weiter und schwieg der Uni gegenüber.“ Sein AIP absolviert er in einer Praxis für Allgemeinmedizin. Auch hier verschweigt er seinen HIV-Status, um den Platz zu erhalten.

Bis sein Immunsystem sich meldet. „Das war 1992, ich begann erstmalig ein HIV-Medikament zu nehmen.“ Mit guten Ergebnissen, aber heftigen Nebenwirkungen. „Ich bin jeden Morgen mit einem Brummschädel aufgewacht – so als hätte ich die ganze Nacht durchgezecht, hatte heftige Schwindelattacken und war außerstande zu arbeiten.“

Als er der Allgemeinärztin, bei der er sein AIP absolviert, die Wahrheit sagt, schlägt ihm eine Welle der Wut und Beschimpfungen entgegen. Er wird fristlos entlassen, erhält Hausverbot und die Androhung einer Rufschädigungsklage, sollte er es wagen, irgendjemandem davon zu erzählen.

„Dann war ich also arbeitsloser Arzt und aufgrund der HIV-Therapie ging es mir gesundheitlich sehr schlecht.“ Bis 1995 schlägt sich der Mittzwanziger mit Jobs durch, hilft einem Freund in dessen Schreinerei und lernt das Segeln lieben.


Wenn man die ganze Entwicklung der HIV-Therapie betrachten würde, erklärt der heutige Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, sei das eine mühsame Phase-III-Live-Studie gewesen. „Die ersten Medikamente, die zum Einsatz kamen, waren anfangs viel zu hoch dosiert. Deshalb hatten wir alle diese starken Nebenwirkungen. Das ging von Kopfschmerzen über Übelkeit und Schwindel bis hin zu Ohnmachtsanfällen.“ Heute nimmt Möller-Nehring täglich eine kleine Tablette, die so gut wie nebenwirkungsfrei ist. In Bezug auf HIV habe er das große Glück gehabt, dass Zeit seines Lebens keine Viruslast nachweisbar war. Dennoch habe das Virus sein Immunsystem angegriffen: „Der Wert meiner Helferzellen ist zu niedrig, aber ich kann damit ganz gut leben. Nur das Corona-Virus bereitet mir ein bisschen Sorge, da bin ich ziemlich vorsichtig.“ Er meide vor allem Klimaanlagen, sagt er, seit zwei Jahren sei er nicht mehr mit der Bahn gefahren oder geflogen, obwohl er geimpft sei.


Zum Facharzt auf Umwegen

1995 ist eine neue HIV-Therapie erhältlich. Sie ist besser verträglich und gleichzeitig wirksam. Jürgen Möller-Nehring – inzwischen als Segellehrer an der Uni Erlangen tätig – zieht es in die Welt hinaus. Gemeinsam mit einem Seglerfreund gründet er eine Firma, die Segelreisen in der ganzen Welt anbietet. „Die meisten Turns sind wir mitgesegelt und es lief richtig gut.“
Dann trennt sich seine erste Frau von ihm. Sie möchte eigene Kinder haben, ein Lebensentwurf, den er nicht mitgehen kann und dem er ebenso wenig im Weg stehen möchte. „Wir haben uns freundschaftlich getrennt, sind bis heute befreundet.“

Nach einer Phase der Neu-Orientierung beschließt Jürgen sein AIP in der Psychiatrie zu Ende zu bringen. „Diesmal wollte ich mit offenen Karten spielen und outete mich direkt im Vorstellungsgespräch. Ich war schließlich weit über 30 und die Frage nach den Gründen für die Unterbrechung meiner medizinischen Karriere lag auf der Hand.“ Und er hat Glück.
Nach einer weiteren Station in der Psychosomatik in Schleswig zieht es den Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie schließlich nach Lübeck in die sozialpsychiatrische Ambulanz, wo er auch viele HIV-Patienten therapiert. Derzeit ist Jürgen Möller-Nehring nur noch gelegentlich als Trauma-Therapeut tätig, denn „eigentlich“, sagt er und lacht, „bin ich ja jetzt im Ruhestand“. Tatsächlich ist von Ruhe keine Spur! Vor 13 Jahren ist ihm seine jetzige Frau in Schleswig in die Arme gesegelt, gemeinsam mit ihr kümmert er sich um zwei Bienenvölker und plant gerade den Umzug zurück nach Süddeutschland, von wo aus die beiden vor allem Reisen unternehmen wollen.

Engagement im und mit dem VOB und viele Ziele

Zudem ist der 60-Jährige Gründungsmitglied des VOB, wo er sich aktiv engagiert. Auch die der Gründung vorausgegangene Blutskandalkampagne hat er unterstützt. „Es gab nicht viele, die sich aktiv für ihre Rechte einsetzten. Die meisten von uns, die noch lebten, hatten in den letzten 30 Jahren vor allem eines perfektioniert: sich gut zu verstecken. Dadurch, dass die Unterstützung auszulaufen drohte, hatten wir aber einen Hebel. Spätestens jetzt wurde auch anderen klar, dass es Handlungsbedarf gab.“
In der Aids-Hilfe empfahl man den Betroffenen, sich zu organisieren, einen Verein zu gründen, der Gemeinnützigkeitsstatus hat. Noch in der Vereinsgründungsphase konnte die erste Hürde genommen werden. Der Bund als alleiniger Stifter stand fest und von der Politik kam die Zusage einer lebenslangen finanziellen Unterstützung, mit einer Anpassung an die Renten ab 2019.
„Hier knüpft unser nächstes Ziel an“, so Möller-Nehring, „denn wir möchten erreichen, dass die Rentenanpassungen viel früher einsetzen und rückwirkend gezahlt werden.“
Zu den weiteren vorrangigen Zielen des VOB gehört es, einen ständigen Sitz in der Stiftung zu erhalten. „Wir als Betroffene möchten gehört werden und mitentscheiden, wenn es um Dinge geht, die uns betreffen.
Nicht zuletzt, so das Gründungsmitglied, gehe es dem VOB darum, die Behandlungssituation flächendeckend zu verbessern: „Den komplexen Gesundheitsproblemen gemäß soll eine interdisziplinär arbeitende Anlaufstelle für die Opfer geschaffen werden, die sich um medizinische und soziale Belange kümmert. Dazu gehören die Vermittlung von Ärzten/Therapeuten und Reha-Kliniken sowie kompetente Beratung in sozialen Fragen. Darüber hinaus sollen regelmäßige und zusätzliche Bedarfe bei der Entschädigung und Absicherung ermittelt werden. Es ist absehbar, dass die Betroffenen aufgrund ihres Alters vermehrt auf gesundheitsfördernde Maßnahmen angewiesen sein werden, Pflege und betreutes Wohnen müssen gesichert sein. Sinnvoll ist, wenn das Kompetenzzentrum eng mit der Stiftung, aber auch mit dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) zusammen-arbeitet. Auch hier sind die Betroffenen bei Planung und Durchführung zu beteiligen“, heißt es seitens des VOB. Auch die Selbsthilfe ist ein wichtiges VOB-Standbein: Austausch, Coaching, psychotherapeutische Angebote, Seminare. „Wir wollen Menschen unterstützen, ihr Selbstbewusstsein und ihre Patientenkompetenz stärken.“ So sollte man als Patient mit einem komplexen Erkrankungsbild in der Lage sein, seine Bedürfnisse anzusprechen und sich dafür stark zu machen.

Gute Entwicklungen

Die Therapiemethoden haben sich in den letzten Jahren enorm verbessert. Menschen mit einer HIV-Infektion sind heute gut behandelbar und auch das HC-Virus lässt sich inzwischen sehr gut therapieren.

Vom VOB heißt es dazu: „Unabdingbar ist für den Verband die gesetzliche Entschädigung der in den 80er/90er Jahren mit HCV infizierten Opfer des Blutskandals. Die Infektionswege und ihre Ursachen sind mit denen des HIV-Blutskandals identisch.“ Diesem Thema will sich die Hämovision in einer zukünftigen Ausgabe widmen.

Nicht ohne uns über uns

Die UN- Behindertenkonvention Nicht ohne uns über uns definiert, dass Betroffene einen Anspruch auf ein Mitspracherecht bei Entscheidungsprozessen haben, vor allem, wenn es um ihre Belange geht. Bereits im 1994 beschlossenen GIPA-Prinzip, das auf dem Paris Aids Summit von Vertretern der damaligen Bundesregierung unterzeichnet wurde, heißt es: Ausdrücklich sollen Menschen mit HIV und Aids auf allen Ebenen und bei allen Entscheidungen, die sie betreffen, beteiligt werden. Bis heute wird diesem Prinzip in der Zusammensetzung des Stiftungsrates nicht Folge geleistet.

 

Sicherheit heute

Die Sicherheit in Hinblick auf die Faktorpräparte ist heute längst nicht mehr mit dem Stand in den 1980er Jahren vergleichbar. Zur Sicherheit der Faktorpräparate wird es in der nächsten Hämovision einen Beitrag geben. Die nächste Ausgabe erscheint im Juni 2022.

Verband "noch leben" – VOB

Aufgaben des VOB

  • Hilfe zur Selbsthilfe
  • Kooperation mit Politikern und Politikerinnen
  • Mitspracherecht – Betroffene vertreten sich selbst im Stiftungsrat und im Stiftungsvorstand
  • Kompetenzzentrum – Medizinische und Soziale Beratung der mit HIV- und/oder HCV-Infizierten
  • Entschädigungsregelung für HCV-Opfer

Der VOB e.V. ist erreichbar unter:
info@nochleben.de & www.nochleben.de

 

Wir bedanken uns ganz herzlich bei Tanja Fuchs, Chefredakteurin der Hämovision, dass sie uns diesen Artikel für die Veröffentlichung auf unserer Homepage zur Verfügung gestellt hat!

Hämovision März 2022

Dieser Text ist erschienen in der Hämovision, Ausgabe März 2022 (August 2021). Sie finden diese Ausgabe zum Download auf unserer Website.

Weitere Ausgaben finden Sie zudem auf dieser Seite:
Das HÄMOVISION-Magazin – Leben mit Hämophilie

Hämovision März 2022