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Schmerz-Therapie: Schmerzen reduzieren und bewältigen

Ein Artikel von Tanja Fuchs
erschienen in der Hämovision, Ausgabe September 2022

Hämophilie und Schmerz

Für die meisten Hämophilie-Patienten gehören Schmerzen zum Alltag. Um etwas dagegen unternehmen zu können, kommt es zunächst auf eine gute Schmerzerfassung an. Darum ging es unter anderem im Artikel „Hämophilie und Schmerz“. In diesem Artikel kommen ein Hämophilie-Patient und eine Schmerztherapeutin zu Wort.

Schmerzen bei Hämophilie

Mit sechs Jahren im Rollstuhl, mit 20 Jahren Schwimmweltmeister. Der 56-jährige Hämophilie-Patient Rainer Stähler – heute dreifacher Vater, doppelter Schwimmweltmeister, IT-Spezialist und Vorstandsmitglied der Deutschen Hämophiliegesellschaft – beeindruckt mit seiner besonderen Lebensgeschichte. Sie erzählt von Schmerzen, vom Durchhalten, von großen Erfolgen nach tragischen Schicksalsschlägen und davon, wie man alles schaffen kann. Eine Erzählung, die Mut macht.

Als Rainer Stähler gerade mal sieben Monate alt war, zeigte sich die Hämophilie zum ersten Mal deutlich: Großflächige Blutungen auf der Kopfhaut des Säuglings veranlassten die erschrockenen Eltern dazu, ihren Sohn direkt ins Krankenhaus zu bringen. Nachdem die Mediziner wenig später die Diagnose stellten, wurde Rainer in das Hämatologische Zentrum in Mainz gebracht. „Das war 1966 und über Hämophilie war noch wenig bekannt“, erzählt er. Statt Faktor VIII zu spritzen, erhielt er damals nur Spenderblut und wurde auf diese Weise sechs Jahre im Zentrum behandelt. „Ich hatte bis zu 25 Blutungen im Jahr und es wurde immer wieder Blut infundiert“, erzählt Rainer Stähler. „Dazu sagte man mir, dass ich ruhig liegenbleiben und mich nicht bewegen soll. Heute weiß man, dass das nicht der richtige Weg ist, aber damals wusste man es eben nicht besser.“

Mit sechs Jahren im Rollstuhl

Es kam, wie es kommen musste, der Zustand des damals Sechsjährigen verschlechterte sich rapide. „Als ich mich wegen meiner durch Einblutungen deformierten Gelenke gar nicht mehr bewegen konnte, hat man mich in einen Rollstuhl gesetzt und mir gesagt, dass ich höchstens noch zehn Jahre zu leben habe“, erinnert sich der dreifache Vater. Doch glücklicherweise sollte alles ganz anders kommen. Als sein eigener Vater wenig später zufällig eine Anzeige im ADAC-Motorwelt entdeckte, mit der das Hämophilie-Zentrum in Bonn um Probanden warb, wusste die Familie noch nicht, dass dies der entscheidende Wendepunkt im Leben ihres Sohnes werden sollte. Nach einem Anruf ging es direkt nach Bonn und der Sechsjährige erhielt zum ersten Mal in seinem Leben Faktor VIII – in sehr hohen Dosen, um die Blutungen und Deformierungen, die schon entstanden waren, ruhig zu stellen und Entzündungen zu stoppen.

Da die Knorpel in Knie- und Fußgelenken schon zusammengewachsen waren, begannen die Mediziner, die Gelenke auseinanderzubrechen. „Ich konnte meine Kniegelenke nur noch bis zu minus 25 Grad strecken“, erinnert sich Rainer. „Damals hat man es dann so gemacht, dass ich über Nacht Schienen mit einem Lederriemen getragen habe, die meine Knie bis zum Morgen nach unten gedrückt haben. Das war eigentlich eine Qual, aber es hat funktioniert.“ Heute wendet man diese Technik nicht mehr an, doch ist es damals gelungen, die Beweglichkeit der Knie weitestgehend wieder herzustellen und dank der Faktor-VIII-Behandlung konnte Rainer auch wieder laufen lernen. „Ich bin dann relativ schnell ins Wasser“, erinnert er sich. „Ich wollte schon immer Schwimmen und man hat mir damals gesagt, dass es der beste Sport sei, den man als Hämophilie-Patient machen könne.“

Bewegung und Sport bei Hämophilie

Schwimmweltmeister trotz Kniebeschwerden und Hepatitis

Vier Jahre später entschied sich der zehnjährige Rainer, zusammen mit seinen beiden Geschwistern, das Wettkampfschwimmen zu beginnen. „Das Problem war, dass ich hauptsächlich mit den Armen Geschwindigkeit erreichen konnte, weil ich meine Knie nicht so richtig gut bewegen konnte. Aber meine Fitness wurde durch den Wettkampfsport immer besser und dann habe ich es sogar in die erste Mannschaft geschafft “, erzählt er. Rainer wurde immer erfolgreicher und gewann sogar bei der ersten Teilnahme 1984 sechs deutsche Meistertitel bei den Deutschen Schwimmmeisterschaften im Behindertensport. Weitere Wettkämpfe folgten und schon bald wurde Rainer in der deutschen Nationalmannschaft aufgenommen. 1986 – 14 Jahre nachdem man Rainer Stähler in den Rollstuhl gesetzt hatte – war es dann so weit: der Hämophilie-Patient holte den Weltmeistertitel! Und es sollte nicht das einzige Mal bleiben. Vier Jahre später stand der 24-Jährige erneut ganz oben auf dem Siegertreppchen. „Ich habe das alles ausschließlich mit Armzug geschafft , erzählt der zweifache Schwimmweltmeister. „Das ist für einen Delphinschwimmer natürlich ungewöhnlich, aber ich hatte mir eine Technik angeeignet, die regelkonform war.“

Der sportliche Erfolg wurde allerdings von gesundheitlichen Schwierigkeiten begleitet. Denn wie viele andere Hämophilie-Patienten, bekam auch Rainer Stähler damals mit Hepatitis A, B und auch C infizierte Faktor-VIII Präparate aus den USA. „Es hat damals fast alle erwischt“, bestätigt der Profi -Sportler. Mit HIV war es ähnlich und bei Rainer Stähler war es pures Glück, dass er von AIDS verschont blieb. So war ihm bereits ein HIV-infiziertes Präparat zugeordnet, welches er wegen einer Studienteilnahme, bei der es um die Behandlung von Hepatitis ging, wieder abgeben musste. Mit dem Hepatitis-C-Virus sollte Rainer Stähler allerdings noch bis in die 00-er Jahre zu tun haben – vom Sport konnte ihn die Infektion aber nicht abhalten. „Nach dem zweiten Weltmeistertitel wollte ich eigentlich noch einmal teilnehmen, entschied mich aber dann für Familie und Beruf“, erzählt er.

Was Rainer Stähler dabei hilft, seine Schmerzen zu besiegen

  • Regelmäßiges Schwimmtraining
  • Bei starken Beschwerden ein Arthrose-Schmerzmittel
  • Kurkuma gegen die Entzündungen (persönliche Erfahrung, keine medizinische Evidenz)
  • Übungen aus der Physiotherapie
  • Besuche bei einer Chiropraktikerin
  • Tägliche Spaziergänge (2 Kilometer)
  • Kühlen und Massieren der Gelenke
  • Faszienrollenbehandlung am Knie
  • Verzicht auf Wurstwaren
  • Reduzierter Fleisch-Konsum
  • Positiv denken und nicht aufgeben

 

Familienglück und Karriereweg

Rainer Stähler hatte damals seine erste Frau kennengelernt, mit ihr zwei Kinder bekommen und in der IT-Branche Fuß gefasst: „Ich habe also einen sehr gelenkschonenden Beruf gewählt“, scherzt der heute dreifache Vater. Bis Ende der 80er-Jahre war der gesundheitliche Zustand von Rainer mehr oder weniger stabil und er entschied sich, an einer weiteren Studie teilzunehmen, in der er das erste, nicht-menschliche Faktorpräparat testen wollte. „Das künstliche Präparat war ein Riesenerfolg“, berichtet er. Gleichzeitig forderte die Umstellung aber seine Gesundheit auch heraus und die lange Trainingspause machte sich ebenfalls bemerkbar. „Ich wusste, dass das irgendwann passieren würde“, erklärt er. „Ich konnte die Verschlechterungen durch das Schwimmen erfolgreich verzögern, aber als ich 30 Jahre alt war, wurde die Arthrose in den Gelenken wieder schlechter.“

Um seinen Zustand zu verbessern, entschied sich der Familienvater mit 30 Jahren für eine sogenannte Knie-Arthroskopie. Dabei handelt es sich um eine minimalinvasive Operation des Gelenks, bei der die Oberflächen geglättet und Gelenke gespült werden. „Sechs Jahre später war dann mein Fuß nicht mehr zu retten und ich habe dafür gekämpft, eine Arthroskopie auch am Fuß zu bekommen, was viel komplexer ist“, erzählt er. Diese trug dazu bei, dass der Fuß wieder beweglicher wurde. „Trotzdem laufe ich heute eigentlich nur noch unter starken Schmerzen“, berichtet Rainer.

Depressionen bei Hämophilie

Tiefe Krise und der Weg daraus

Nicht nur die zunehmenden Gelenkschmerzen machten dem Mitte-30-Jährigen zu schaffen – gleichzeitig litt er noch immer unter den Symptomen der Hepatitis-C-Infektion. Sein Leben war durch die Beschwerden stark eingeschränkt und in den 90-er-Jahren wurden die ständigen Schmerzen auch zu einer Belastung für die Beziehung. Als seine damalige Frau ihn verließ und danach auch die zwei Kinder zu ihr zogen, erlitt Rainer einen gesundheitlichen Rückschlag. „So konnte es nicht weitergehen und ich beschloss, eine Hepatitis-C-Therapie zu machen.“ Da die Behandlung mit starken Nebenwirkungen verbunden ist, hatte Rainer lange gezögert. Aber im Laufe der Jahre wurden die Aussichten besser und die Nebenwirkungen geringer und 2008 gelang es dem Schwimm-Profi dann auch endlich, das Virus zu besiegen.

Von Hepatitis C befreit, hatte Rainer neue Energie: „Ich wollte ein neues Leben anfangen, habe alles reorganisiert, eine neue Frau gefunden und mit ihr ein drittes Kind bekommen“, erzählt der IT-Spezialist und betont, dass er auch mit seinen beiden ersten Kindern noch Kontakt hat. Erneut hatte sein Leben eine positive Wendung genommen, „meine jetzige Frau unterstützt mich, auch wenn die Schmerzen schlimmer werden.”

Optimistisch in die Zukunft

Aktuell überlegt Rainer, ob ein künstliches Kniegelenk für ihn eine Option sein könnte. „Es besteht die Chance, dass die Schmerzen dann weg sind, aber garantieren kann man mir das nicht“, erklärt er. Gleichzeitig nimmt Rainer sein Schwimmtraining wieder auf, was während der Corona-Zeit nicht möglich war. „Es ist mir sehr wichtig, dass ich meine Fitness wieder verbessere und so die Schmerzen reduziere“, sagt er. Um in Bewegung zu bleiben, bringt der stolze Vater außerdem jeden Morgen seinen Sohn zu Fuß in die Grundschule, die einen Kilometer entfernt ist – denn aufgeben, das kommt für den Weltmeister im Schmerzbesiegen natürlich nicht in Frage.

Wir wünschen Rainer Stähler alles Gute und danken ihm ganz herzlich für den sehr interessanten Bericht!

Interview mit Dr. Heiderose Ortwein vom Vivantes MVZ Friedrichshain

Dr. Heiderose Ortwein ist Fachärztin der Anästhesie und hat an der Berliner Charité in der Schmerzambulanz die Zusatzbezeichnung spezielle Schmerztherapie sowie Palliativmedizinerin erworben. Seit 2015 ist sie als ambulante Schmerztherapeutin beim Vivantes MVZ Friedrichshain in Berlin beschäftigt. Zu ihren Zusatzbezeichnungen gehören: Manuelle Medizin, Chirotherapie und Entspannungsverfahren.

Frau Dr. Ortwein, können Hämophile einfach zu Ihnen in die Ambulanz kommen?

Im Prinzip schon. Wir möchten allerdings eine Überweisung von dem Primärversorger oder dem Orthopäden haben. Für eine ganzheitliche Schmerztherapie ist es wichtig, dass behandelnde Ärzte untereinander kommunizieren, damit die Therapie koordiniert abläuft. Denn wenn jeder sein eigenes Ding macht, ist das sehr ungünstig bei Patienten mit komplexen Erkrankungen. Ich rate Hämophilie-Patienten daher, ihren Arzt um eine Überweisung zu bitten und dann zu uns zu kommen.

Können auch junge Patienten kommen, die kaum Schmerzen haben?

Unbedingt. Schmerztherapeutisch macht es immer Sinn, frühzeitig zu starten. Denn je länger Schmerzen bestehen, desto schwerer lassen sich Besserungen herbeiführen. Und zu einem frühen Zeitpunkt können wir verhindern, dass der Schmerz Veränderungen im zentralen Nervensystem herbeiführt und chronisch wird. Was Patienten aber wissen müssen ist, dass man sich auf lange Wartezeiten einstellen muss.

Welcher Ablauf erwartet Patienten, die bei Ihnen eine Therapie machen wollen?

Zunächst bekommen Patienten eine sogenannte Erstberatung. Währenddessen klären wir darüber auf, welche therapeutischen Möglichkeiten es neben der medikamentösen Behandlung gibt. Wir schauen beispielsweise intensiv, ob eine psychologische Begleitung sinnvoll sein kann oder ob eine Schmerzbewältigungstherapie in der Gruppe geeignet ist. Langfristig empfehle ich Patienten, mindestens jedes halbe Jahr zu uns zu kommen.

Was sind die Ziele einer Schmerztherapie?

Es geht darum, Schmerzen zu reduzieren und zu bewältigen. Dafür entwickeln wir mit den Patienten Strategien für ihr persönliches Schmerzmanagement. Eine Methode, die wir Patienten beibringen, ist das sogenannte Prinzip „Pause forte“. Diese von dem Psychosomatiker Martin von Wachter entwickelte Methode funktioniert so, dass Patienten Kärtchen mit Pausenaktivitäten beschriften. Beispiele dafür können eine-Tasse-Tee-trinken, einmal-um-den-Block-spazieren oder Lieblingslied-hören sein. Dreimal am Tag ziehen Patienten eine solche Karte und erinnern sich so daran, ihren Alltag mit positiven Momenten zu bereichern und Überlastungen vorzubeugen.

Wie wichtig ist Sport für die Schmerztherapie?

Eine Ausdauersportart gehört zu jeder Schmerztherapie dazu. Je nach Studie sind es viermal 30 Minuten oder dreimal 45 Minuten pro Woche, die Patienten aktiv sein sollten. Für Hämophilie-Patienten mit Gelenkbeschwerden bietet sich Fahrradergometer-Training an. Das ist uns sehr wichtig, da Studien belegen, dass Ausdauersport das Nervensystem vor Veränderungen durch Schmerzen schützen kann. Deswegen handelt es sich um eine Grundbehandlung bei chronischem Schmerz.

Wann macht eine Psychotherapie Sinn?

Neben der körperlichen Aktivierung, Faszientraining, Wärme- oder Kälteanwendungen ist die Psychotherapie eine wichtige Säule der Schmerztherapie. Denn wir wissen, dass Belastungssituationen im Alltag das Schmerzgeschehen verstärken. Wenn Betroffene beispielsweise ihren Alltag nicht gut bewältigen können, eine Angststörung oder Depression vorliegt oder eine Trennung stattgefunden hat, geht es einerseits darum, Krisen zu bewältigen und andererseits, Entspannungsverfahren zu erlernen. Dazu gehören beispielsweise die Progressive Muskelentspannung nach Jacobsen und auch Atemübungen. Denn wenn das Entspannungssystem des Körpers gestärkt ist, wird die Schmerzabwehr verbessert.

Wann überweisen Sie Patienten in eine Schmerztagesklinik?

Wenn wir ambulant nicht weiterkommen, überweisen wir in eine Tagesambulanz, in der Patienten über vier Wochen verschiedene Angebote nutzen können. Dazu gehören Bewegungs-, Physio- und medikamentöse Therapien sowie Entspannungsverfahren und ein regelmäßiges Sportprogramm. Das hilft vielen Schmerzpatienten sehr gut.

Was ist ihre Botschaft für Hämophilie-Erkrankte?

Sie sollten Schmerzen auf keinen Fall aushalten, sondern offen darüber sprechen und sich frühzeitig Hilfe suchen.

Frau Dr. Ortwein, vielen Dank für das Gespräch.