Ein Artikel von Tanja Fuchs
erschienen in der Onkovision, Ausgabe 18
Kognitive Beeinträchtigungen nach einer Chemotherapie? Davon berichten viele Krebspatienten. Der Begriff sei irreführend, sagen Experten und sehen nicht unbedingt die Chemotherapie als Ursache. Wie dem auch sei: „In uns steckt so viel mehr Kraft als wir denken“ – mit diesem Fazit endet ein Artikel, den Claudia Poguntke im Jahr 2019 im Magazin „Lebenlang“ veröffentlichte.
„Ich bin doch nicht gehirnamputiert!“, so der Titel von Claudia Poguntkes Artikel, aus dem nachfolgend zitiert werden soll. In diesem Artikel outet sich die Kommunikationsexpertin. Sie spricht über ihre Krebs-Erkrankung. Öffentlich! Sie tut dies über zehn Jahre nach ihrer Erkrankung und sie tut es, „weil die Leistungsfähigkeit der Menschen, die eine Krebserkrankung überstanden haben oder mit der Diagnose und ihren Spätfolgen leben, immer noch ein Tabuthema ist“.
Hintergrund: Im April 2009 erhielt Claudia Poguntke die Diagnose AML (akute myeloische Leukämie) – eine aggressive Form von Blutkrebs– genauer gesagt, „eine sehr seltene, aggressive Form akuter Leukämie“. Sie war 38 Jahre alt, ihre Überlebenschance lag bei ca. 15 Prozent. Die Krebstherapie dauerte neun Monate, kaum ein Jahr später trat ein Rezidiv auf. Während der sich anschließenden Knochenmarktransplantation gab es Komplikationen – eine schmerzhafte Herpesinfektion hatte sich im gesamten Mund ausgebreitet. (Und dies ist die sehr stark verkürzte Zusammenfassung.) Nach einem Reha-Aufenthalt stellte man die Anfang Vierzigjährige vor die Wahl: „Frühverrentung oder Wiedereingliederung nach dem Hamburger Modell“. Sie entschied sich für Letzteres.
In ihrem Artikel mit dem Titel „Ich bin doch nicht gehirnamputiert“ schreibt sie:
Die Rückkehr in meinen alten Job nach der Leukämie war ein deutliches Zeichen: Ich bin wieder auf den Beinen und unterwegs auf meinem neuen alten Lebensweg. Allein bei dem Ausblick auf Normalität tickte ich vor Freude fast aus, während der Personalbeauftragte einen recht besorgten Eindruck machte. Er sah nicht mehr die aufstrebende Kreativdirektorin in mir, sondern ‚das Risiko‘ für die Agentur. Wer jung genug ist, Krebs im berufsfähigen Alter zu überleben – was glücklicherweise immer häufiger der Fall sein wird – kennt Vorbehalte dieser Art. Ich kann mich noch gut an meine Wut und Enttäuschung erinnern. ‚Ich bin nur stammzellentransplantiert, nicht gehirnamputiert.‘ Wut kann dich ausbremsen, aber auch eine ungeheure Schubkraft entwickeln. Entgegen allen familiären, freundschaftlichen und ärztlichen Empfehlungen, mich unter keinen Umständen anzustrengen, gab ich Vollgas. Ich saß wieder im Fahrersitz und wollte ‚verlorene Zeit‘ aufholen und beweisen, ‚was ich wert bin‘.
Ich war hoch motiviert und strotzte nur so vor Energie. Die pure Freude am Überleben stellte sämtliche ‚Langzeitzipperlein‘ in den Schatten. Zwölf Chemozyklen, zwei Strahlentherapien und eine Stammzellentransplantation später saß ich euphorisiert in meinem alten Büro: bereit, den besten Job zu machen. Eine entscheidende Kleinigkeit ließ ich dabei komplett außer Acht: Ich vergaß, dass ich vieles vergaß. Chemobrain heißt dieses Phänomen. Eine neuropsychologische Folgestörung, die bei Stammzellentransplantierten nach Leukämie keine Seltenheit darstellt.“
Es hatte schon nach einigen Zyklen Chemo angefangen, erzählt Claudia Poguntke im Gespräch mit der Onkovision. „Ich merkte, dass ich nicht in der Lage bin, auch nur eine Seite in einem Buch zu lesen und ertappte mich dabei, wie ich immer wieder dieselbe Seite las, ohne das Gelesene wirklich aufzunehmen. Das ist sehr frustrierend.“
Und das macht Angst
Während der Krebstherapie hatte Claudia Poguntke eine andere Patientin mit ähnlicher Diagnose getroffen, die ganz offensichtlich an Aphasie litt. „Sie versuchte ein Gespräch mit mir zu führen, konnte die Worte aber nicht richtig zuordnen. Das hat mich sehr erschrocken. Ich war im zweiten Behandlungszyklus nach Rezidiv – da war natürlich schon eine Menge an Belastung und auch ich hatte zunehmend Schwierigkeiten, mich zu erinnern. In einem Telefonat mit meiner Mutter fiel mir der Name meiner Schwester nicht mehr ein, und als ich später wieder in der Agentur arbeitete, verwechselte auch ich plötzlich die Worte. Es war mir äußerst peinlich, denn bereits während ich Dinge aussprach, merkte ich, dass sie falsch waren.“
„Synapsen-Pingpong: An die Wortfindungsstörungen gewöhnte sich mein engstes soziales Umfeld schnell. Schwieriger wurde es im Büro. Da hatte ich schon mal das Auto fertig, statt der Präsentation. Oder wollte Kinder begrüßen statt Kunden. Meine Synapsen spielten Pingpong. Und ich fühlte mich wie der Tischtennisball der chinesischen Nationalmannschaft. Unvergesslich – kein Wortwitz! – war mein Besuch im Baumarkt wenige Monate nach meiner Entlassung aus der Klinik. Ich war voller Lebenslust und Tatendrang und hatte einfach Lust, meine Wohnung zu verschönern. Also fuhr ich in den nächsten Baumarkt. Ich kaufte einen ganzen Wagen voll ein: Wandfarbe, Vorhangstangen und zwei große, grüne Bambusstauden für meine Dachterrasse, samt gigantischen Pflanzgefäßen. Der Einkaufswagen war so schwer, dass ich alle Mühe hatte, damit durch die Gänge des Baumarkts zu navigieren.
„Ich bat einen freundlichen jungen Baumarktmitarbeiter um Hilfe. Ob er mir wohl die schweren Dinge in den Kofferraum heben könne? Er kam mit auf den Parkplatz vor dem Laden. Ich sah mein Auto nicht. Aufgeregt lief ich die Parkreihen auf und ab. Ich hatte es doch hier geparkt. Alles andere würde keinen Sinn ergeben. Es blieb dabei: Auf dem Baumarktparkplatz stand kein einziger PKW. Nur ein Fahrrad. Das Fahrrad kam mir bekannt vor. Es gehörte mir. In diesem Augenblick fiel mir ein, dass ich gar kein Auto mehr besaß seit meiner Erkrankung. Ich war mit dem Fahrrad zum Baumarkt gefahren, um mir nur eine kleine Zimmerpflanze zu kaufen.“
Fühlt sich Demenz so an?
Besonders hart traf es mich, weil meine Arbeit reine Denkarbeit war. Als Texterin war ich trainiert, auf K(n)opfdruck zweisprachige Werbekonzepte, Websites, Broschüren und Pressemitteilungen zu schreiben. Und jetzt konnte ich mich nicht einmal an den Namen meiner Schwester erinnern, verwechselte das Wort „Kunden“ mit „Kindern“ und vergaß binnen Minuten, dass ein Fahrrad keinen Kofferraum hat. Dennoch, eins wusste ich genau: Ich kann mein Gedächtnis trainieren wie ein Sportler seine Muskulatur. Mit Geduld, Ausdauer und Willensstärke.
Apaphasie
bedeutet wörtlich übersetzt „Sprachverlust“. Medizinisch versteht man darunter eine durch Krankheit erworbene Sprachstörung. Betroffene suchen oft beim Sprechen nach den passenden Begriffen. Der Redefluss wirkt dadurch häufig stockend. Begriffe werden fehlerhaft verwendet, wodurch das Gesprochene für andere unverständlich werden kann. (www.mediclin.de)
Worte, die schnell geschrieben sind, aber eine gefühlte Ewigkeit dauern, wenn es um die Ausführung geht. Die gute Nachricht ist: Wir können daran arbeiten. In uns steckt so viel mehr Kraft, als wir denken. Apropos: Denken macht Spaß, man kann es sogar (wieder) lernen.
Unser Gehirn ist trainierbar
In der Reha hatte Claudia Poguntke im Rahmen der Ergotherapie mithilfe von Computerspielen trainiert oder indem sie – anstelle eines Buches – zunächst Magazine mit kürzeren Texten las. Kleine Häppchen und Schritt für Schritt. Auch sei sie in der Rehaklinik zum ersten Mal mit der Schreibtherapie in Berührung gekommen. „Durch das aktive, spielerische Arbeiten mit Sprache habe ich es geschafft, wieder in diesem Bereich arbeiten zu können. Ich habe Wortlisten erstellt und mir Krücken im Alltag gebaut. Und ganz langsam wurde es besser.“ Auch hier brauche man viel Zeit und noch mehr Geduld. „Wenn ich sehe, wo ich heute stehe und zehn Jahre zurückblicke, dann fühlt es sich an, als sei ich damals auf einem anderen Planeten unterwegs gewesen“, sagt die Empowerment-Expertin, die für die Mika-App arbeitet, kürzlich ihren Master im weiterbildenden Masterstudiengang Biografisches und Kreatives Schreiben abgeschlossen hat und selbst Therapeutische Schreibkurse für Menschen mit Krebs anbietet.
Was sagt die Forschung?
In der Forschung gibt es inzwischen Belege, dass kognitive Störungen nicht unbedingt auf die Krebstherapie zurückzuführen sind, sondern vielmehr auf die seelische Belastung, die eine Krebserkrankung mit sich bringt – und die sich auch weit nach dem Ende der Therapie noch als posttraumatische Belastungsstörung zeigen kann. Gibt es also überhaupt ein Chemobrain oder sind es mehrere Faktoren, die hier zusammenwirken? Der Abdruck aus dem Artikel „Ich bin doch nicht gehirnamputiert“ in der Onkovision erfolgt mit freundlicher Erlaubnis der Autorin Claudia Poguntke (www.creative-cancer-coach.com).
Hamburger Modell (Rehabilitation)
Das sogenannte „Hamburger Modell“ bezeichnet die stufenweise Wiedereingliederung von sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmern in das Arbeitsleben in Voll- oder Teilzeit und ist in § 74 SGB V und § 44 SGB IX geregelt. Dadurch soll die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers verkürzt und stufenweise die volle Arbeitsbelastbarkeit wiederhergestellt werden. Den Anstoß geben oft ein Arzt, der Medizinische Dienst der Krankenkassen, ein Krankenhaus oder eine Rehabilitationseinrichtung für Patienten nach stationärer oder ambulanter Behandlung aufgrund aller Arten von langen oder schweren Erkrankungen, wobei eine ausreichende Belastbarkeit und eine günstige Prognose zur beruflichen Wiedereingliederung gegeben sein müssen. Die Vorteile des Hamburger Modells liegen in der Abwendung von Arbeitslosigkeit auf der einen und dem Erhalt der Arbeitskraft auf der anderen Seite. Während der stufenweisen Wiedereingliederung erhält der Arbeitnehmer weiterhin Kranken- oder Übergangsgeld, so dass der Arbeitgeber auf diese Weise Personalkosten spart. Der Beginn der Wiedereingliederung wird mit wenigen Arbeitsstunden bis zum vollen Arbeitsumfang gesteigert und erfolgt in Abstimmung mit dem Arzt. Das Wiedereingliederungsprogramm steht grundsätzlich nur Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung offen.
Quellen: wikipedia; https://www.anwalt.de/rechtstipps/hamburger_modell
Wir bedanken uns ganz herzlich bei Tanja Fuchs, Chefredakteurin der Onkovision, dass sie uns diesen Artikel für die Veröffentlichung auf unserer Homepage zur Verfügung gestellt hat. Der Text ist erschienen in der Onkovision, Ausgabe 18.
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