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Tabu!? Krebs in der Intimzone

Ein Artikel von Tanja Fuchs
erschienen in der Onkovision, Ausgabe 19

Krebs ist immer ein Schock und obgleich der offene Umgang mit der Erkrankung längst keine Ausnahme mehr ist, gibt es Krebsarten, über die mehr und solche, über die weniger gesprochen wird. Zu letzteren gehören Peniskrebs und das Vulvakarzinom.

Von Krebs spricht man, wenn die unkontrollierte Vermehrung und Wucherung von Zellen zur Entstehung einer bösartigen Gewebeneubildung (maligne Neoplasie) bzw. einem bösartigen Tumor (Malignom) führt. Grundsätzlich kann es in jedem Organ des menschlichen Körpers zu einer solchen Gewebewucherung kommen. Durch die immer bessere Diagnostik werden Tumoren immer früher erkannt und der zunehmend offene Umgang damit hat die bedrohliche Erkrankung nach und nach aus der Tabuzone befreit.

Dennoch ist auch weiterhin viel Aufklärungsarbeit nötig. Noch immer gibt es Krebserkrankungen, über die nur wenig gesprochen wird. Dabei handelt es sich zumeist um eher seltene Diagnosen und um Körperregionen, die generell sehr intim sind. So wie bei Peniskrebs oder dem Vulvakarzinom. Beide Erkrankungen gehören zu den seltenen Krebserkrankungen, beide sind gut behandelbar. Vorausgesetzt, sie werden rechtzeitig erkannt. Genau das scheint vielfach ein Problem zu sein.

Krebs im Intimbereich | Witzleben Apotheke Berlin

Intimbereich und Schamgefühl

Die Fähigkeit, Scham zu empfinden, ist menschlich. Wissenschaftler vermuten, dass sie in unseren Genen steckt. Ihre äußeren Anzeichen jedenfalls sind universell: Wir erröten, senken den Blick, lassen die Schultern hängen und möchten uns am liebsten unsichtbar machen. Auch Genitalscham kommt in allen Gesellschaften vor. Selbst bei Naturvölkern. Auf den ersten Blick erscheinen viele Naturvölker zwar sehr freizügig, doch auch sie bedecken in der Regel ihr Genital und reagieren verlegen, wenn die Bedeckung verrutscht.

Die Gründe für die menschliche Scham sind vielschichtig und sollen hier nicht weiter erläutert werden. Die Scham selbst spielt aber eine große Rolle, wenn es darum geht, Erkrankungen im Intimbereich untersuchen zu lassen und erst recht, öffentlich darüber zu sprechen.

Krebs im Intimbereich | Witzleben Apotheke Berlin

Peniskrebs

Der Besuch beim Urologen ist für viele Männer ein schambesetztes Thema. Das Abtasten der Hoden, die Untersuchung der Prostata und die genaue Betrachtung der Vorhaut durch den Urologen – allein der Gedanke daran ist vielen Männern derart unangenehm, dass sie den Besuch in der urologischen Praxis lange hinauszögern. Nicht nur, wenn es um die empfohlene Vorsorge geht, sondern auch dann, wenn akute Beschwerden vorliegen.

„Wird schon nichts Schlimmes sein… das geht schon wieder weg“, denken sich viele und ziehen es vor, erst einmal abzuwarten. Mitunter auch sehr lange. Der Aufschub der urologischen Untersuchung ist dabei weniger in der Angst vor Schmerzen begründet, sondern eher reine Kopfsache. Dabei spielt auch die Sorge eine Rolle, der Arzt könnte tatsächlich etwas finden. Das eher irrationale Argument „Kein Arztbesuch – kein Befund“ mag im gegenwärtigen Moment verständlich sein, ist mit Blick auf die Zukunft aber oftmals problematisch.

Auch Stefan Kübler hat zunächst lange gewartet, dann einen unerfahrenen Urologen vor sich und schließlich doch noch großes Glück gehabt. Als Journalist, sagt er heute, habe er den ganzen Prozess immer auch mit einem gewissen Maß an Neugier, Faszination und Interesse an den medizinischen Möglichkeiten beobachtet.

Ein Erfahrungsbericht: „Von Krebs am Penis hatte ich noch nie etwas gehört!

Im Sommer 2016 wird Stefan Kübler mit einer Diagnose konfrontiert, die den allermeisten wahrscheinlich schlagartig den Boden unter den Füßen wegzieht: „Peniskrebs!“ Plötzlich ist der Blogger, der sich unter anderem den unzähligen Geschichten, die das Leben schreibt, widmet, auch Krebs- und Patienten-Blogger.

Offen, ehrlich und mit einer sympathischen Prise Humor teilt Stefan Kübler seine Erfahrungen rund um ein sehr intimes Thema. Auf seinem Blog und bei den Mutmachern von yeswecan!cer, auf der Bühne der Krebs-Convention YesCon, für die HPV-Wanderausstellung und im Gespräch mit der Onkovision.

 
 
 
 
Erfahrungsbericht Peniskrebs | Witzleben Apotheke Berlin

Mit meiner Dokumentation möchte ich als Krebsblogger und Patientenblogger einen Beitrag zur Aufklärung über Peniskrebs, einer sehr seltenen Krebsart, leisten und in Sachen Motivation und Krankheitsbewältigung ein Vorbild für andere Krebserkrankte und deren Angehörige sein“, schreibt der in Celle lebende Blogger, Redakteur, Marathonläufer, Ehemann und Vater über das Kapitel „Krebs“ in seinem Blog derneuestefan.com.
 

Die ersten Anzeichen

Angefangen hatte es mit roten Stellen am Übergang von der Eichel zum Schaft. Die Haut war gereizt und schmerzte, wie es eben schmerzt, wenn man eine kleine Wunde hat. „Ich dachte erstmal nichts Schlimmes und wartete ab“, erzählt Stefan. Auf die Frage, wie lange genau, antwortet er: „Sehr lange!“ Es wurde mal besser und dann wieder schlimmer und als er wegen einer anderen Sache einen Termin beim Hautarzt hat, fasst er Mut und zeigt dem Dermatologen die wunde Stelle. Der Hautarzt empfiehlt den Besuch beim Urologen, der den damals 33-Jährigen mit einem Rezept für eine Salbe und Kamillenbäder nach Hause schickt. Die Hautrötung scheint zunächst etwas zurückzugehen, um sich dann abermals zu verschlimmern. Dreimal sucht Stefan Kübler denselben Urologen auf. Drei Jahre vergehen, bis endlich eine Biopsie erfolgt, die schließlich jene Klarheit bringt, die den inzwischen 36-Jährigen und seine Frau erstmal aus ihrem gerade gut gefüllten Alltag reißt. Eben erst hat das junge Paar ein renovierungsbedürftiges Haus finanziert und alle Hände voll zu tun.

Nachdem endlich Klarheit über den bösartigen Tumor herrschte, prasselten die Einschläge nur so auf mich ein. Mit mindestens zwei Operationen hatte ich zu rechnen. Mit der ersten sollte der Tumor entfernt, mit der zweiten die Lymphknoten in der Leiste untersucht werden, da auch sie von Krebs befallen sein könnten. Im besten Fall sollte die Sache danach erledigt sein“, bloggt Stefan im Kapitel „Netter Versuch, Krebs!“ im Oktober 2016.

Die Diagnose wird in einer Uniklinik gestellt, Überbringer der Hiobsbotschaft ist ein junger Arzt, der damit selbst überfordert scheint.

Vor der Tür des Sprechzimmers brachen wir dann zusammen, meine Frau äußerlich, ich innerlich. Wir schleppten uns zurück in den Wartebereich und setzten uns. Und sammelten uns. Und umklammerten uns. Nach ein paar Minuten wurde es etwas besser, doch in diesem Moment wollte ich von dem Stuhl im Wartezimmer nie wieder aufstehen. Denn ich wusste, sobald ich aufstehen würde, müsste ich mich um den Krebs kümmern. Krebs. Mein Gott, ich bin jetzt Krebspatient!

Eine kleine Odyssee auf dem Weg zur richtigen Lösung

Plötzlich waren unglaublich viele Dinge zu erledigen“, erzählt Stefan. Wie ferngesteuert sei er durch mehrere Klinikstationen geeilt, um Termine zu machen. Termine die er ein paar Tage später wieder absagen würde. „Zwischen den Zeilen hatte ich verstanden, dass diese Klinik für diese Erkrankung nicht die richtige war. Also holte ich Zweit- und Drittmeinungen ein.“ Die urologischen Abteilungen von zwei weiteren Unikliniken in Norddeutschland sucht er auf, bis er sich endlich im Gespräch mit einem Urologen wiederfindet, für den der Organerhalt an erster Stelle steht, der von einer Rekonstruktion als Selbstverständlichkeit spricht und der spezialisiert auf diese Art der Operation ist.

Erst das Thema Familienplanung und dann die OP

Stefan ist 36 Jahre alt, verheiratet und hat mit seiner Frau gerade ein Haus gekauft. Alle
Zukunftslichter stehen eigentlich auf grün! Eigentlich. „Plötzlich stand meine Zeugungsfähigkeit auf dem Spiel. Darüber hatte ich mir nie Gedanken gemacht. In aller Eile kümmerte ich mich um die Konservierung meines Erbgutes“, schreibt Stefan im Blog.

Und dann stehen die Operationen an: In der ersten OP wird der Tumor und mit ihm die Eichel entfernt, die man jedoch sogleich aus einem Stück Oberschenkelhaut rekonstruiert. „Im Aufwachraum habe ich zunächst versucht, mit der Hand etwas zu ertasten und war irgendwie beruhigt, als ich einen Verband spürte, der um etwas herumgewickelt war“, erzählt Stefan im Gespräch.

Mit dem zweiten operativen Eingriff werden vorsorglich die Lymphknoten in den Leisten entfernt. Schließlich steht, in einer dritten Operation noch eine Korrektur der Vorhaut an. Danach kehrt zum Glück Ruhe ein. Zumindest was die Operationen und den Krebs betrifft. Umso lebendiger ist das Leben zu Hause geworden, denn vor zwei Jahren wurde Stefans kleine Tochter geboren und stellt seitdem die Welt ihrer Eltern auf schönste Weise auf den Kopf.

Rückblickend, so der junge Vater, habe er die Zeit nach den Operationen, insbesondere als es um die Familienplanung ging, als besonders anstrengend empfunden. „Das war belastender als die operativen Eingriffe im Krankenhaus“, erzählt er. Umso mehr freut er sich, dass es geklappt hat. „Wir wussten ja anfangs gar nicht, wie lange die Behandlung dauern würde und was noch notwendig sein könnte. Es war sicher ein Vorteil, dass ich weder eine Chemo noch eine Bestrahlung brauchte.“ Doch die Krebserkrankung an sich sei eine immense Belastung für den Körper und die Psyche und damit auch für die Zeugungsfähigkeit. Das dürfe man nicht unterschätzen.

Die Psyche braucht länger

Die meisten Menschen verlieren nach einer Krebserkrankung ein Stück Unbekümmertheit. Auch Jahre nach der einschneidenden Erfahrung mit Krebs können Ängste wieder hochkommen. Stefan weiß das und würde das Thema gerne nochmal angehen. Zur Sicherheit. Psychoonkologische Unterstützung habe man ihm nämlich nicht angeboten. Obgleich die Rehaklinik, in die man ihn im Anschluss an die Operationen schickt, auch Patienten mit psychischen Problemen behandelt, sei das aus irgendeinem Grund kein Thema gewesen. „Ich vermute, dass ich bei der Aufnahme wohl so gewirkt habe, als ob ich das nicht nötig hätte und es, wie überall, auch dort zu wenige Psychotherapeuten gibt.“ Heute, sagt er, frage er sich aber oft, ob es da nicht doch noch das ein oder andere gebe, dass er aufarbeiten sollte.

Man ist mit so vielen Dingen beschäftigt: Therapien, Nachsorge, Zurück in den Beruf, Familienplanung… da gibt’s eine Menge zu bewältigen und bislang blieb das Thema „Sich um eine psychotherapeutische Aufarbeitung kümmern“, einfach auf der Strecke.

Doch auch ohne psychoonkologische Begleitung sind die Erinnerungen an den Reha-Aufenthalt im Oberharz positiv. Es sei viel um den Bewegungsapparat, um das Körperliche gegangen und es habe ihm auf jeden Fall gutgetan: „Ich habe z.B. Tai Chi kennengelernt, war viel in der Natur und bin dort auch hin und wieder gelaufen.

Apropos Laufen

Der Sport und insbesondere das Laufen gehören für Stefan zu jenen Faktoren, die ihm auch durch die schwierige Phase mit dem Krebs geholfen haben. „Am Wochenende nach der Diagnose saß ich zuhause und mir gingen 1.000 Sachen durch den Kopf: Wie geht es weiter, was mach ich jetzt, wie komm ich da wieder raus? Ich weiß nicht, ob es Trotz oder Selbstschutz war oder einfach nur, um mich abzulenken, aber ich habe angefangen Pläne zu schmieden. Einer davon war: „… und wenn das alles durch ist, dann laufe ich einen scheiß Marathon!“ Sogar ein konkretes Ziel setzt er sich: „In sechs Jahren, im Jahr 2022 werde ich 42 und werde die 42 km laufen.“ Kürzlich war es soweit. Am 15. Mai 2022 ist Stefan in Flensburg mit an den Start gegangen. Und hat es durchgezogen!

Ein weiterer Entschluss, der noch vor dem sportlichen Ziel gefasst war, war der, das Ganze aufzuschreiben und der Krebserkrankung Raum in seinem Blog zu geben. Das Schreiben ist nicht nur Teil seines Berufs und Freude am kreativen Formulieren, „mit dem Bloggen über die Erkrankung konnte ich mir auch vieles von der Seele schreiben“.

Und wie fühlt es sich so an?

Immer wieder erhält Stefan Nachrichten von anderen Betroffenen. Es seien häufig jüngere Männer, die Fragen hätten, einige davon seien bereits beim Arzt gewesen, andere noch nicht. Manche wollten wissen, ob ihre Symptome auf einen Tumor am Penis hindeuten könnten, häufig sind sie auch unzufrieden mit den Antworten ihres Urologen. Viele quält die Frage, wie das eigentlich mit dem Sex ist, nach so einer OP? Wie fühlt es sich an? Und wie sieht eine rekonstruierte Eichel aus?

Man muss Geduld haben“, sagt Stefan. „Es dauert eine Weile, bevor man sich da überhaupt wieder ran traut und natürlich ist es auch Kopfsache. Aber es geht! Ja, man kann wieder ganz normal Sex haben und ja, es bringt Spaß.“ Das Gefühl sei natürlich ein etwas anderes, räumt er ein, aber es ist okay und alles sieht normal aus. Auch die Stelle am Oberschenkel sei so gut verheilt, dass man kaum etwas bemerken würde, wenn man nicht genau hinsieht.

Dass Stefan bereits in einer gefestigten Beziehung war, als die Diagnose gestellt wurde, war natürlich großes Glück. Auch dass seine Frau ohne Wenn und Aber zu ihm gestanden und ihn in jeder Hinsicht unterstützt habe, weiß er zu schätzen und ist ihr dafür unendlich dankbar.

Kostenübernahme

Um jungen Patienten eine Perspektive zu geben, hat der Bundestag 2019 das Recht auf Kostenübernahme fruchtbarkeitserhaltender Maßnahmen, durch Einfrieren von Keimzellen und Keimzellgewebe für alle Mädchen und Frauen bis 39 Jahre und alle Jungen und Männer bis 49 Jahre, beschlossen. Doch die Umsetzung des Rechts auf Fruchtbarkeitserhaltung ist lückenhaft.

Papillomaviren

So gut wie jeder Erwachsene kommt im Laufe seines Lebens mit Papillomaviren in Berührung, die hauptsächlich durch sexuellen Kontakt übertragen werden. Die Viren befallen die Schleimhäute von Vulva, Scheide, Gebärmutterhals, Penis und After sowie von Mund, Rachen und Kehlkopf.  Mehr als 90 von 100 Infektionen sind harmlos und haben keine Folgen. Bei manchen können sich zum Beispiel harmlose Warzen an den Geschlechtsorganen bilden und wieder verschwinden. Bei einigen bleibt die Infektion bestehen, in seltenen Fällen kann daraus Krebs entstehen. Es gibt verschiedene Typen von HPV, von denen nur ein kleiner Teil mit Krebs in Verbindung steht.

Mehr Info: www.gesundheitsinformation.de/humane-papillomviren-hpv.html

Krebs im Intimbereich | Witzleben Apotheke Berlin

»Als mein Körper mich verlassen hat, habe ich meinem Körper die Schuld gegeben. Aber heute weiß ich, dass mein Körper nichts dafür kann. Heute weiß ich, dass es wesentlich ist, die Psyche aufzubauen, und dass diese eine ganz bedeutende Rolle spielt. Unabhängig davon, ob es darum geht, wieder gesund werden zu können, eine palliative Situation zu bewältigen oder Abschied zu nehmen.«

Myriam von M.

Ein Erfahrungsbericht: „Der Angriff auf meine Weiblichkeit hat mich zutiefst verletzt

Myriam von M. ist erst 25 Jahre alt als die Diagnose Vulvakrebs sie aus der Bahn wirft. Es ist der Beginn einer langen Odyssee, die sie schließlich zur Krebsaktivistin macht und zur Gründung der gemeinnützigen GmbH „Fuck Cancer“ führt, die Menschen mit Krebs und deren Angehörigen Halt und Unterstützung bietet.

20 Jahre liegt die Diagnose Vulva-Karzinom bereits zurück, 20 Jahre, in denen es für Myriam von M. zahlreiche emotionale Achterbahnfahrten gab, die sie in ihrem 2016 erschienenen Buch „Fuck Cancer“ mit Interessierten teilt. Und das Interesse ist groß. So groß, dass das Buch kurz nach Erscheinen auf der SPIEGEL-Bestsellerliste landet. Gnadenlos ehrlich lässt Myriam den Leser an ihren Erfahrungen und Gefühlen teilhaben, berichtet von Fehldiagnosen und Ärzten, denen es an Empathie fehlt, von Menschen, die ihr geholfen haben und die für sie da waren, von Wunden und Wundern und davon, dass sie am Ende eines langen Weges ihre Berufung fand, für die sie heute keine Mühen scheut. Die Fuck Cancer GmbH.

Erfahrungsbericht Vulvakrebs | Witzleben Apotheke Berlin

Die Stelle an der Vulva

Es ist nur ein kleiner Knubbel an der Dammschnitt-Narbe – die bei der Geburt ihres Sohnes entstanden ist, die ihren damaligen Freund und Vater des Kindes beunruhigt. Immer wieder drängt er darauf, dass sie es untersuchen lässt, während Myriam selbst das Ganze gelassen sieht: „Was soll das schon sein, Schamlippenkrebs, oder was?!“ Die trotzigen Worte, die sie ihm an den Kopf wirft, hört sie sich noch heute sagen.

Myriam von M. geht jedes Jahr zur gynäkologischen Vorsorgeuntersuchung, sie ist erst 25 Jahre alt. Nach dem Umzug hat sie die Praxis gewechselt, und zur Klärung der kleinen Stelle ist sie nun bereits dreimal dort gewesen. Zunächst erhält sie eine Narbensalbe, danach wird ein Pilz vermutet, zuletzt versucht der Arzt es mit dem Vereisen einer von ihm vermuteten Warze. Danach sei es erst richtig schlimm geworden, sagt Myriam. Die Stelle nässt, juckt und wird größer, schließlich sucht sie ihren alten und langjährigen Gynäkologen auf, der sie mit den Worten „Myriam, das muss raus“, umgehend zum Chirurgen überweist.

Noch immer denkt sich die junge Mutter nichts Böses, sie möchte erstmal ein paar Dinge regeln. Sie hat ein anderthalbjähriges Kind zu Hause, ihre Beziehung ist gerade problematisch und eben erst hat sie einen neuen Job angenommen. Bis sie den Termin in einer ambulanten Chirurgie vereinbart, vergehen einige Wochen.

Die OP verläuft gut, die Wunde verheilt, nur die Fäden zwicken unangenehm. Aus Zeitmangel lässt sie sich abermals in der gynäkologischen Praxis vor Ort einen Termin geben. Es sind ja schließlich nur die Fäden. Mehr oder weniger beiläufig teilt der Gynäkologe ihr mit: „Sie hatten da unten tatsächlich ein Karzinom. Sie haben Krebs.“ Damit nicht genug, weil niemand damit gerechnet hatte, dass eine so junge Frau ein Vulva-Karzinom haben könnte, ist der Sicherheitsabstand der Schnittstellen nicht ausreichend.

Verdammt nochmal, ICH HABE KREBS! Ich spüre, wie mir die Energie aus meinem kompletten Körper in die Arme schießt, als sich meine Hände wie von allein zu Fäusten ballen und ich auf mein Lenkrad einprügle. (…) Ich weine und schreie fürchterlich“, beschreibt sie in ihrem Buch die Emotionen, die sich nach der unerwarteten Schocknachricht Bahn brechen.

Plötzlich Forschungsobjekt

Krebs war für mich eine Krankheit alter Leute. Ich fiel in ein Loch, hab dicht gemacht, wollte das alles nicht“, sagt sie. Ihre in den USA lebende beste Freundin kann sie schließlich am Telefon davon überzeugen, die onkologische Abteilung einer Klinik aufzusuchen. Die junge Assistenzärztin ist sichtlich überfordert und hebt erst einmal hervor, wie ungewöhnlich der Fall Myriam von M ist: „Ich weiß gar nicht, was ich mit Ihnen machen soll.“ Nicht gerade das, was man zur Beruhigung hören möchte. Und dann erklärt sie en détail, was los ist und – so schreibt es Myriam in ihrem Buch – liefert auch „die vermeintliche Superlösung: eine Vulvektomie! Das ist ein operativer Eingriff, bei dem teilweise oder vollständig Schamlippen, Klitoris und weitere Teile des äußeren primären Geschlechts der Frau entfernt werden.

Mir wurde schlagartig heiß und sofort hatte ich Bilder im Kopf. Dann habe ich die Ärztin angebrüllt, ich würde mich nicht verstümmeln lassen und bin rausgestürmt… Mit einer Bestrahlung hätte ich allenfalls gerechnet, okay, aber ein frontaler Angriff auf meine Weiblichkeit, das Intimste einer Frau!? Niemals!

Immer wieder erhält Myriam Anrufe aus dem Krankenhaus. Ihr Fall sei Thema in der Tumorkonferenz gewesen heißt es, der Klinikprofessor persönlich, ausgewiesener Experte auf dem Gebiet, werde sie operieren. „Man hat mir quasi angeboten, mich wie eine Privatpatientin zu behandeln, obgleich ich gesetzlich versichert bin. Nur weil mein Scheißtumor zum Prestigefall taugt (…) soll ich direkt in die Upperclass der Kranken aufsteigen?“ schreibt sie in ihrem Buch. Sie habe sich nicht wohl gefühlt dabei…

Schließlich lässt sie sich doch auf einen Termin ein, wird aber den Eindruck nicht los, man betrachte sie vor allem als Forschungsobjekt. Doch nicht nur der unverhoffte Aufstieg zur Privatpatientin, auch all das was folgt, ist an Unerträglichkeit kaum zu übertreffen. „Ich fühlte mich diesem Professor dermaßen ausgeliefert. Er machte Fotos mit der Polaroid Kamera und kritzelte mit einem Filzstift auf meiner Vulva herum, um zu dokumentieren, wo er wie operieren würde.“ Am schlimmsten, sagt Myriam, sei seine wenig empathische, ausschließlich sachliche Art gewesen. „Er erklärte dann, man werde eine halbseitige Vulvektomie machen, die Klitoris bleibe aller Voraussicht nach erhalten. Immerhin. Die Wächterlymphknoten sollten ebenfalls entfernt und biopsiert werden.“ Schließlich stellt der Professor noch Bedingungen, es sollen Studenten während des Eingriffs dabei sein dürfen. „Who cares, denke ich mir? Auf die paar Gestalten mehr oder weniger kommt es auch nicht mehr an. Schließlich liege ich ja schon jetzt völlig nackt und breitbeinig vor einem alten Mann, den ich mehr oder weniger bereitwillig Fotos schießen lasse (…) noch mehr bloßgestellt kann man wohl kaum werden.

Ein Gefühl der Demütigung

Doch Myriam fällt es schwer, die Sache anzugehen. Ein Dreivierteljahr lässt sie verstreichen, bis sie sich selbst dazu zwingt, endlich aufzuwachen und einen Termin zu machen. Der einzige Lichtblick nach der OP ist ihre beste Freundin, die aus den USA herübergeflogen ist, um Myriam im Krankenhaus zu besuchen. Sie ist auch dabei, als der Professor mit seinen Studenten zur ersten Visite erscheint. „Wie werde ich da unten wohl aussehen? Was wird noch da sein? Oh Mann, die Angst versorgt mein Kopfkino mit den allerfeinsten Horrorbildern. (…) Gepaart mit dem Gefühl des völligen Ausgeliefertseins stecke ich in einer Situation, die ich meinem ärgsten Feind nicht wünschen würde. (…) als der Verband ab ist, fange ich direkt an zu weinen – nicht nur vor Schmerz, sondern auch vor Demütigung (…) Hinschauen will ich eigentlich nicht, doch ich muss. (…) Tränen kullern über meine Wangen. Ich komme mir schmutzig vor, missbraucht.

Angst macht zurückhaltend

Schon nach der allerersten OP, in der die Vorstufe des Karzinoms entfernt wurde, hatte Myriam sich sexuell zurückgezogen. „Sobald jemand nur in die Nähe meines Bauches kam, zuckte ich zusammen. Obwohl die Vulvektomie noch gar nicht erfolgt war, hatte ich schon brutale Angst, jeder Kontakt könnte den Krebs wiederkommen lassen.“ Für jede Beziehung sei das eine riesige Belastung. Vor allem wenn man erst Mitte zwanzig ist.

Angst und Hoffnung, Licht und Dunkelheit

Nach der Vulvektomie findet sich Myriam in einem noch tieferen Loch wieder: „Alles erscheint mir so sinnlos und traurig, wer will schon etwas mit einer Frau zu tun haben, die ihrer Weiblichkeit beraubt worden ist? Exakt so fühle ich mich. Leer. Bestohlen. Beraubt.“ Mitten hinein in ihre beginnende Depression fällt der Tod ihrer geliebten Oma. Sie verliert an Gewicht und weiter an Balance, rappelt sich erneut auf und beginnt schließlich ein Psychologiestudium, an dessen Ende sie Heilpraktikerin für Psychotherapie ist.

Die Wiederherstellungs-OP, die eigentlich ein halbes Jahr nach der Vulvektomie stattfinden soll, schiebt sie lange vor sich her. Erst als sie wieder richtig verliebt ist und endlich wieder ganz Frau sein möchte, gelingt es ihr, einen Termin zu machen. Sie hat Angst und redet sich selbst gut zu: „Doch ich weiß, dass die Voraussetzungen dieses Mal ganz anders sind. Ich kann mich nicht nur mental auf den Eingriff vorbereiten, sondern habe auch ein Ziel vor Augen: eine endlich wieder vollständige Myriam! (…) Ja, das gefällt mir, endlich wieder zu einhundert Prozent Frau sein!

Der Heilungsprozess verläuft gut, doch Myriam ist zu ungeduldig und erschrickt beim ersten Anblick: „Niemals werde ich wieder ein normales Sexualleben haben“, denkt sie und kann sich dann doch freuen, als es langsam, aber stetig besser wird. „Und als sich die Fäden erst einmal vollständig gelöst haben, sehe ich fast wieder aus, wie eine ganz normale Frau.“ Und sie hat wieder Sex. Nicht nur, dass sie diesen genießen kann, macht sie glücklich, noch mehr erfreut es sie, dass ihrem Partner, dem sie die Wahrheit verheimlich hatte, gar nichts auffällt.

Bis Myriam ihre echte große Liebe und ihre Berufung finden soll, wird noch einiges an Zeit vergehen. Sie durchlebt eine selbstzerstörerische Phase, in der sie nach ständiger Bestätigung von Männern sucht, um sich selbst zu beweisen, dass sie Weiblichkeit ausstrahlt und begehrenswert ist.

Ein weiterer Befund an der Gebärmutter wirft sie erneut weit zurück in die Ausweglosigkeit.
Wieder folgen Operationen und leider auch ärztliche Fehleinschätzungen. Zwischen zwei Operationen wird sie – völlig unerwartet – schwanger, geht durch eine leidvolle Schwangerschaft und bringt einen gesunden zweiten Sohn zur Welt. Beziehungen beginnen und zerbrechen wieder.
2009 treten abermals Veränderungen an der Vulva auf, diesmal begibt sich Myriam in das Krebsforschungszentrum nach Heidelberg, wo man sich gut mit HPV auskennt. Drei der aggressivsten HPV-Varianten hat man ihr inzwischen bestätigt und geht davon aus, dass diese auch für das erste Vulva-Karzinom ursächlich waren.

2014 gründet Myriam von M. „Fuck Cancer“ – als gemeinnützige GmbH. Sie weiß, dass sie ziemlich stark sein muss, um nach der Odyssee, die sie hinter sich hat, dort angekommen zu sein, wo sie jetzt steht. Von dieser Stärke möchte sie anderen Menschen etwas abgeben. Sie möchte Vorbild sein, aufklären und helfen: „Ich will der Krankheit einen Sinn geben und die vermeintlich verlorenen Jahre endlich positiv nutzen.“ Genau das tut sie. Ihre Facebook-Seite explodiert, sie ist im Fernsehen zu sehen, die Fuck-Cancer-Gemeinde wächst und schließlich wird sie mit dem My-Aid-Award ausgezeichnet.

Myriam von M. möchte Hoffnung geben und trotzdem ehrlich sein: „Vulvakrebs ist belastend und eine riesige Herausforderung. Egal, wie viel Erfahrung und Unterstützung man hat, es gibt immer wieder Phasen, in denen Ängste zurückkehren. Meine Vulva und ich, wir werden in diesem Leben keine Freunde mehr und das ist schade, denn ich bin ein sexuell offener Mensch. Aber ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass die ganze Geschichte nicht zu Blockaden geführt hätte. Natürlich kann man noch Sex danach haben und eine gute Nachricht ist sicherlich die, dass ich den besten Sex nach meiner Vulvektomie und mit meinem jetzigen Mann hatte, mit dem ich seit inzwischen 11 Jahren zusammen bin.“ Aber, gibt Myriam zu bedenken: Es komme immer mal wieder vor, dass man verkrampfe. „Man darf das nicht überbewerten. Und auch wenn eine Frau nach einer Vulvektomie und einer Rekonstruktion nie wieder richtig Sex haben möchte, dann ist das okay. Wichtig ist, dass man sich rechtzeitig psychologische Unterstützung sucht. Am besten gemeinsam mit dem Partner.“

Buchtipp

Myriam von M‘s Geschichte ist zu vielfältig, um sie hier in aller Ausführlichkeit darstellen zu können. Ihren sehr persönlichen und ehrlichen Erfahungsbericht findet man in ihrem Buch. Eden Books / Edel Verlagsgruppe; 1. Aufl. 2016, ISBN 978-3959101004

Das Vulva-Karzinom

Die gynäkologische Vorsorgeuntersuchung, auf die Frauen ab 20 jährlich Anspruch haben, ist anders als die urologische beim Mann für viele Frauen selbstverständlich. Sollte man meinen. Tatsächlich nutzen 33,6 Prozent aller Frauen in Deutschland diese Möglichkeit nicht oder nicht regelmäßig. Das ist insofern fatal, als das durch die gynäkologische Krebsfrüherkennung bereits Vorstufen an der Vulva aber auch Gebärmutterhalskrebs und Brustkrebs in einem frühen Stadium entdeckt und behandelt werden können.

Doch ein Vulva-Karzinom gehört zu den seltenen Krebserkrankungen und aus diesem Grund gibt es nicht nur vergleichsweise wenige wissenschaftliche Studien, leider gibt es hin und wieder auch Ärzte, die die Veränderungen – sogenannte Präkanzerosen oder Dysplasien – nicht als solche wahrnehmen oder ihnen nicht weiter auf den Grund gehen. So wie bei Myriam von M.

Fuck Cancer

Seit der Gründung 2014 hat FUCK CANCER fast 400 Schützlinge auf ihrem letzten Weg begleitet. Herzenswünsche wurden erfüllt, finanzielle Hilfestellungen geleistet, bei Amtsgängen und dem Ausfüllen von Formularen unterstützt. Nah an den Menschen zu sein ist etwas, das Myriam von M. und ihrem Team außerordentlich wichtig ist. Eine besondere Rolle spielt hier die ungewöhnlich persönliche Art der Sterbebegleitung – ein Schwerpunkt der gemeinnützigen Organisation. Betreut werden Schützlinge und ihre Familien ab der Diagnose „unheilbar“ meist über Monate oder sogar Jahre hinweg.

In akuten Fällen ist Myriam von M. rund um die Uhr erreichbar und begleitet vielfach persönlich bis zum Lebensende. Psychoonkologische sowie pflegende Tätigkeiten gehören ebenso dazu, wie z.B. Entspannungsübungen. Auch Angehörige werden auf Wunsch weiter durch ihre Trauer begleitet. Die Fuck Cancer gGmbH finanziert sich ausschließlich durch Spenden, weitere Infos und die Möglichkeit zu spenden finden sich hier: www.fuck-cancer.de

Wir bedanken uns ganz herzlich bei Tanja Fuchs, Chefredakteurin der Onkovision, dass sie uns diesen Artikel für die Veröffentlichung auf unserer Homepage zur Verfügung gestellt hat. Der Text ist erschienen in der Onkovision, Ausgabe 19 (August 2022) (PDF-Datei, 1 mb).

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